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Samuel Hahnemanns Einführung in die Homöopathie

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Zur theoretischen Begründung des homöopathischen Verfahrens

(§ 22) Fassen wir zusammen: An Erkrankungen ist nichts anderes weg zu nehmen, um sie in Gesundheit zu verwandeln, als die Ge­samtheit ihrer Symptome. Und die Arzneien können nichts anderes Heilkräftiges aufweisen, als ihre Neigung, Krankheitssymptome am Gesunden zu erzeugen und am Kranken hinweg zu nehmen.
Zum einen folgt daraus, dass Arzneien nur dadurch zu Heilmitteln werden, dass sie durch Erregung gewisser Symptome, also durch Erzeugung eines gewissen künstlichen Erkrankungszustandes, die schon vorhandenen Symptome, nämlich den zu heilenden natürli­chen Erkrankungszustand, aufheben.
Zum anderen folgt, dass zu der Gesamtheit der Symptome einer zu heilenden Erkrankung diejenige Arznei gesucht werden muss, welche die meiste Neigung bewiesen hat, ähnliche oder entgegengesetzte Symptome zu erzeugen. Und zwar hat dies je nachdem zu geschehen, ob die Erfahrung zeigt, dass Krankheitssymptome durch ähnliche oder durch entgegengesetzte Arzneisymptome am leichtesten, sichersten und dauerhaftesten aufzuheben sind.26

26 Die außer diesen beiden noch mögliche Art der Anwendung von Arzneien gegen Erkrankungen ist die allöopathische Methode, bei der Arzneien verordnet werden, deren Symptome keine direkte, pathische Beziehung zu dem Krankheitszustand haben. Die Gefährlichkeit dieses Verfahrens wurde schon anderswo vor Augen geführt. Gewöhnlich wird für die Anwendung dieser Methode der Vorwand gebracht, dass der Arzt die kranke Natur, in ihren Bestrebungen sich zu helfen, nachahmen und sie befördern müsse. Dabei wird nicht bedacht, wie höchst unvollkommen und meist zweckwidrig diese Bestrebungen sind.
Das Lebensregime ist nämlich instinktartig und ohne Verstand und dem Organismus nur anerschaffen, um das Leben in harmonischem Gang fortzu­führen, solange der Organismus gesund ist. Es ist nicht erschaffen, um sich im Krankheitsfall selbst zu heilen. Denn besäße es hierzu eine musterhafte Fähigkeit, so würde es den Organismus gar nicht erst krank werden lassen. Von Schädlichkeiten erkrankt, vermag das Lebensregime nichts anderes, als seine Verstimmung durch Störung des guten Lebensganges des Organismus und durch Leidensgefühle auszudrücken. Zum Heilen besitzt das krankhaft verstimmte Lebensregime wenig nachahmenswerte Fähigkeit. Denn alle von ihm im Organismus erzeugten Befindensveränderungen und Symptome sind ja eben die Erkrankung selbst.

[Hahnemann setzt hier - als Zeichen der Güte Gottes - voraus, dass überhaupt eine allgemeine Zuordnung existiert, welche den Erkrankungen ihre Heilmittel zuweist. Ansonsten könnte er obigen Schluss gar nicht ziehen. Diese Zuordnung muss sich darstellen lassen als Zuordnung zwischen den Merkmalsgruppen, die jeweils die Erkrankungen und die Arzneien repräsentieren. Dies sind aber die jeweiligen Gesamtheiten von erregten Symptomen, wie Hahnemann zuvor ausgeführt hat. Er hat also zu klären, welche allgemeine Zuordnung zwischen diesen Symptomengruppen in Frage kommt.]

(§ 23) Jede reine Erfahrung und jeder genaue Versuch überzeugen uns aber, dass dauerhafte Krankheitssymptome von einer Arznei mit entgegengesetzten Symptomen (antipathische Methode) nicht auf­gehoben werden, sondern dass sie vielmehr nach kurz dauernder, scheinbarer Linderung nur umso stärker hervorbrechen und sich offenbar verschlimmern (siehe §§ 58-60, 69).

(§ 24) Es bleibt folglich keine andere, Hilfe versprechende Anwendung der Arzneien gegen Erkrankungen übrig als die homöopathische. Bei der homöopathischen Methode wird unter allen Arzneien, von denen man weiß, welche Veränderungen im Befinden gesunder Menschen sie nachweislich hervorrufen, diejenige Arznei gesucht, welche die Kraft und Neigung hat, einen künstlichen Krankheitszustand zu erzeugen, der dem Krankheitsfall möglichst ähnlich ist. Hierbei sind auch die Entstehungsursache, sofern bekannt, und die Nebenumstände zu berücksichtigen.

(§ 25) Nun lehrt aber die einzige und untrügliche Offenbarung der Heilkunst, die reine Erfahrung27, in allen sorgfältigen Versuchen das Folgende: Die Gesamtheit der Symptome eines Krankheitszustandes, das ist die ganze gegenwärtige Erkrankung (s. §§ 6-15), wird tatsächlich schnell, gründlich und dauerhaft behoben, wenn man diejenige Arznei in gehörig potenzierten und verkleinerten Gaben anwendet, die in ihrer Einwirkung auf gesunde menschliche Körper nachweis­bar die meisten Symptome des zu heilenden Krankheitsfalles in Ähnlichkeit erzeugen kann. Alle Arzneien heilen diejenigen Erkrankungen, die ihnen an ähnlichen Symptomen möglichst nahe kommen, ohne Ausnahme und lassen keine derselben ungeheilt.

27 Es ist nicht eine solche Erfahrung gemeint, die auf dem jahrelangen Herumwirtschaften mit zahlreichen, aus vielen Arzneien zusammengesetzten Rezepten beruht, wobei auch noch die genaue Untersuchung der Erkrankungen durch das Erdich­ten von Hypothesen ersetzt wird. Dabei beobachtet man zwar immer etwas, weiß aber nicht was, kann diese Beobachtungen nicht aus den vielfachen auf den unbekannten Gegenstand einwirkenden Kräften enträtseln. Aus solchen Beob­achtungen ist nichts zu lernen, nichts zu erfahren.

Zur Universalität der Arzneiwirkung

(§ 116) Einige Symptome werden von den Arzneien in vielen gesunden Körpern hervorgerufen, andere nur in wenigen, wieder andere nur in sehr wenigen.

(§ 117) Zu den letzteren gehören die Überempfindlichkeiten gegen bestimmte Stoffe und Reize (Idiosynkrasien). Hierbei besitzen ansonsten gesunde Körper die Neigung, von gewissen Dingen in einen mehr oder weniger krankhaften Zustand versetzt zu werden, obwohl diese Dinge bei vielen anderen Menschen gar keine Wirkung zu haben und keine Veränderung zu machen scheinen. 69
Doch dieser Mangel an Wirkung auf einige Personen ist nur scheinbar. Denn zur Hervorbringung dieser, wie auch aller übrigen krankhaften Befindensveränderungen sind beide, sowohl die Kraft der einwirkenden Substanz als auch die Erregbarkeit des Lebensregimes durch diese Kraft, erforderlich. Deshalb können die Erkrankungen in Fällen von Überempfindlichkeiten nicht bloß diesen besonderen Körperbeschaffenheiten in Rechnung gestellt werden, sondern sie müssen auf die veranlassenden Dinge zurückgeführt werden. In ihnen muss die Kraft liegen, diese Wirkung auszuüben. Diese Kraft ist ihnen zugehörig, unabhängig vom betreffenden Körper, sie muss also auf alle menschlichen Körper gleich stark einwirken. Nur, dass eben bloß wenige unter den gesunden Körpern geneigt sind, sich von ihnen in einen so auffallend kranken Zustand versetzen zu lassen. Dass diese Potenzen tatsächlich auf jeden Körper diese Wirkung haben, sieht man daran, dass sie bei allen kranken Personen homöopathische Hilfe leisten für solche Krankheitssymptome, die ähnlich sind zu denen, welche sie selbst erregen können (obgleich anscheinend nur bei den überempfindlichen Personen).70

69 Einige wenige Personen können vom Geruch der Rosen in Ohnmacht fallen. Manche geraten vom Genuss der Miesmuscheln, der Krebse oder Barbenrogen, oder durch Berührung des Laubes einiger Sumacharten usw. in diverse andere krankhafte, zuweilen gefährliche Zustände.

70 {Hahnemann macht in einer Anmerkung zwei Literaturverweise auf Beispiele für Heilungen durch Rosenwasser bzw. Rosenessig.}

Zur optimalen Gabe

(§ 277) Eine homöopathisch passend gewählte Arznei schadet also in zu starker Gabe, weil sie auf die ohnehin geschwächten Teile des Organismus zu sehr einwirkt. Sie schadet umso mehr, je stärker die Gabe ist. Andererseits wird aber bei hinreichend kleiner Gabe eine wohl dynamisierte Arznei umso heilsamer und fast wundersam hilfreich, je homöopathischer sie ausgesucht war. Aus diesen beiden Gründen muss aber die Anwendung einer homöopathisch passend gewählten Arznei umso heilsamer sein, je näher die Gabe zu dem Grad von Kleinheit herabsteigt, der für sanfte Hilfe am angemessensten ist.

[Hahnemann setzt also über eine homöopathisch passende, wohl dynamisierte Arznei voraus:
- sie schadet bei hinreichend großer Gabe, und zwar zunehmend mit ansteigender Gabengröße (von Hahnemann in §§ 275-276 theoretisch begründet).
- sie ist (sehr) hilfreich bei geeigneten kleinen Gaben (Erfahrung).
Um obigen Schluss auf die angemessenste Gabe ziehen zu können, muss Hahnemann über die Abhängigkeit der Wirkung von der Gabengröße unausgesprochen gewisse Annahmen machen (z. B. dass diese Abhängigkeit kontinuierlich und nicht-oszillierend ist).]